ROS 301 - FVS "Bertolt Brecht" - Bericht einer ungewöhnlichen Geschichte...
Die "Bertolt Brecht" (BB) - unter Fischern scherzhaft "Beule" genannt - war das erste Fang- und Verarbeitungsschiff (FVS) der DDR. Indienststellung war am 31.03.1960 - der Beginn einer neuen Ära. Gebaut auf der Mathias-Thesen-Werft (MTW) in Wismar. Am 23.07.1958 auf Kiel gelegt und am 23.12.1959 als "Bertolt Brecht" getauft und vom Stapel gelassen. Am 03.04.1960 ging sie mit 98 Mann Besatzung auf ihre Jungfernreise. Techn.-Daten: L=85,92 m; BRT 3000; Aktionsweite 24.600 sm; Antrieb 1.800 PS; Geschw. 12 sm; Laderaum 1.413 qbm; geplanter Jahresfang ca. 12.000 t.
Es folgten 12 weitere Schiffe dieser Klasse in teils abgeänderter, modernerer Version.

Die wahre Begebenheit, die ich hier dokumentieren kann, war skurril, unwirklich und mit Sicherheit einmalig. Skurril waren die Umstände und unwirklich, weil es irgendwie gespenstisch war. Eine Vorlage für ein Drehbuch. Den genauen Tag habe ich mir leider nicht notiert.

Es war im Herbst 1964. Mein damaliges "Stammschiff" war auf hoher See und ich wurde verdonnert, auf der "Beule" anzumustern, die zum Komplettumbau in der Rostocker Neptunwerft im Dock lag. Neben einem neuem "A"-Mast (statt Ladepfosten am Heck) bekam sie eine neue Verstellpropelleranlage. Kosten für letztere ca. 5 Mio. DM - so munkelte der Buschfunk.
Es war Ende September, das Wetter war spätsommerlich, als die BB in die MTW nach Wismar zur weiteren Fertigstellung überführt werden sollte. Gegen 14 Uhr begann das Ausdocken. Zirka 6 Stunden später verließ die BB die Neptunwerft. Deklariert als Wrack, flankiert und bugsiert von 2 Schleppern. An Bord war keine Hauptmaschine und kein "Jockel" (Diesel zur Stromerzeugung). Als Lichtquellen dienten ein paar Petroleumlampen.
Alles war notdürftig und improvisiert. Auf dem Hauptdeck war ein riesiges, notdürftig gesichertes Loch. Es war die Öffnung zum Maschinenraum, für die De- und Montage der Hauptmaschine und anderer Aggregate. In den Maschinenraum - oder besser von dem, was davon übrig war - gelangte man nur über eine 22-sprossige, gut 7m lange Holzleiter.
Auf dem Hauptdeck stand eine Feuerlöschpumpe vom Typ TS7, Leistung 700 l/min. Gewicht ca. 150 kg. Sie sollte später einen entscheidende Rolle spielen.

Die Überführungsbesatzung bestand aus dem Kapitän, ca. 4...5 Matrosen und einem Feuerwehrmann. Technisches Personal war, soweit ich mich erinnern kann, nicht an Bord. Wozu auch - auf einem "Wrack". Denn außer der benzinbetriebenen Pumpe gab es keinerlei Technik an Bord. Selbst die Kommunikation auf dem über 80m langen Schiff war problematisch.
Wir schipperten die Warnow runter, an unserem Stammhafen in Marienehe vorbei und passierten die (damalige) Warnow-Werft in Warnemünde. Durch den großen Seekanal ging es hinaus auf die Ostsee. Es war Abendbrotzeit und wir zogen uns in die Messe zurück. Nach dem Essen wurden vom "Alten" zwei Wachen eingeteilt. Es wurde noch ein wenig geklönt und getrunken, es war schließlich eine Kiste Bier an Bord...
Abends, gegen 22 Uhr stoppten die Schlepper ab. Wir befanden uns kurz vor Wismar. Sie gaben uns zu verstehen, dass sie uns in der Dunkelheit nicht durch das enge Fahrwasser nach Wismar schleppen wollten. Stattdessen wollten sie auf den Morgen warten. Sie warfen ihre Anker und begaben sich zur Ruhe.
Unsere eingeteilte Frühwache - zu der auch ich gehörte - zog sich in ihre Logis zurück, die alles andere als komfortabel waren. Die Nachtwache vertrieb sich derweil die Zeit mit Skat spielen in der Messe. Gegen 4 Uhr sollte die Ablösung sein...

Es war so zwischen zwei und drei Uhr nachts, als das Drama begann. Einer der Nachtwache kam uns völlig aufgelöst und laut rufend "...steht auf, steht auf - wir saufen ab...!" zu wecken. Erst glaubte ich, der spinnt, der hat wohl zuviel Bier intus. Als er nach ganz kurzer Zeit wiederkam, quälte ich mich schlaftrunken aus der Koje - und rutschte sofort unter die Back! Das Schiff hatte eine gehörige Schlagseite!
Schon im Normalfall war es sehr abenteuerlich und hochgefährlich im Dunkeln durch das Schiff zu stolpern. In den Betriebsgängen, an Deck - überall lag irgendwelches Zeugs rum. Nun noch diese extreme Schlagseite!
Aber warum? Wir eilten zum Hauptdeck und versuchten mit unseren Petroleumlampen "Licht ins Dunkel" zu bekommen. Keine Chance! Aber wir hörten ein deutliches Rauschen. Kein Zweifel - Wassereinbruch!
Sofort höchste Alarmstufe! Wir versuchten die Schlepperbesatzungen auf uns aufmerksam zu machen. Was uns nur mit Mühe und viel Gebrüll gelang. Wir forderten sie auf, längsseits zu kommen, um uns auszupumpen. Sie leuchteten uns mit ihren Scheinwerfern ab und verweigerten unseren Wunsch! Mit der Begründung, dass unsere Schlagseite bereits zu stark sei. Das Risiko, dass weitere Öffnungen, z.B. die Speigatten der Fischverarbeitung, die sich unterhalb des Hauptdecks befanden und bereits bedrohlich nahe der Wasserlinie waren und den Wassereinbruch deutlich verstärken könnten, sei unkalkulierbar. Ein Kentern des Schiffes wäre somit nicht mehr ausgeschlossen. Die Schlepper würden dann mit in die Tiefe gerissen. Sie hätten "SOS" gefunkt und Hilfe angefordert...

Wir waren auf uns selbst gestellt. Nun musste die Feuerlöschpumpe vom Hauptdeck nach ganz unten in den Maschinenraum. Denn der Ansaugschlauch war nur 2,5 m lang. Wenn wir überhaupt eine Chance zum Pumpen haben wollten, dann musste die Pumpe auf einem der Maschinensockel zum Liegen kommen. Denn die Bilge und der Wellentunnel waren bereits vollgelaufen. Pumpen von Deck wäre wegen der langen Ansauglänge von über 7m nicht möglich gewesen. Dafür war die Pumpe auch nicht ausgelegt.
An seemännischer Ausrüstung war nur Schrott an Bord. Keine Blöcke, Umlenkrollen oder Taljen. Kein geeignetes Tauwerk. Nichts, was uns richtig gut hätte helfen können. Mit so einem Einsatz hatte auch niemnand gerechnet. Der Feuerwehrmann schwitzte - wie man so schön sagt - "Blut und Wasser".
Nachdem ein Matrose, der dieses Schiff genauer kannte, die Situation im Maschinenraum erkundet hatte, haben wir mit vier Mann die Pumpe an eine Stelle neben der Leiter gewuchtet, die nach unten in den Maschinenraum führte.  Durch die engen Betriebs- und Niedergänge war das bei dieser Dunkelheit und Schlagseite ein echter Kraftakt.  Wer eine kleine Vorstellung von einem Schiff mit schwerer Schlagseite in fast völliger Dunkelheit hat, kann die Situation erahnen. In dem Stress hatten wir keine Zeit daran zu denken, was wohl ist, wenn das Schiff tatsächlich kentern würde.
Mit einem alten maroden Festmacher haben wir dann die Pumpe über eine relativ scharfe Kante hinunter gefiert. Zirka 7m galt es zu überwinden. Es waren vielleich 3/4 geschafft, als der Festmacher brach und die Pumpe nach unten stürzte. Wir waren starr vor Schreck. Es krachte - aber das Geräusch war "trocken". Das ließ uns hoffen, dass sie auf dem Gerümpel (Bretter, Planen usw.) liegen geblieben ist, was auf den Fundamenten der Maschinen rumlag. Wir mussten nach unten, um das schwere Ding richtig zu positionieren. Die 7m lange Holzleiter, die bei jeder Bewegung in Schwingung geriet, war schon bei Licht und normalen Bedingungen eine kleine Herausforderung. Das Blubbern des Wassers, die Schlagseite...
Wir hatten tatsächlich Glück. Die Pumpe war fast unversehrt. Nur der Tank hatte sich gelöst und hing nur noch an der Kraftstoffleitung. Wir brachten sie in Stellung und montierten den Tank und die Schläuche. Nun war der Feuerwehrmann an der Reihe. Sein größter Auftritt - wie er selber sagte. Angelassen wurde die Pumpe manuell, mittels eines "Anlasshebels", der entsprechend "gerissen" werden musste. Nach ungezählten Versuchen sprang die Pumpe an. Ein Riesenjubel entbrannte! Es muss so gegen 4 Uhr gewesen sein...
Mit dieser Pumpe hielten wir uns nicht nur über Wasser, das Schiff richtete sich sogar ein wenig auf.

Wieviel Zeit inzwischen vergangen war, weiß ich nicht. Wieder an Deck, war von irgendwelcher Hilfe weit und breit nichts zu sehen. Schließlich wollen die Schlepper "SOS" gefunkt haben. Was ich nun so langsam in Zweifel zog. Ich weiß auch nicht mehr, wann das Feuerlöschboot bei uns eintraf und seine Arbeit aufnahm. Aber es war schon hell.
Es dauerte dann nicht mehr lange, bis die Staatsgewalt komplett präsent war: Feuerwehr, Wasserschutzpolizei, Zoll, Kripo, Stasi - alles war vertreten...
Am späten Nachmittag liefen wir in Wismar ein, wo sich dieses Ereignis unter den Werftarbeitern bereits herumgesprochen hatte. Und abends gingen wir in die Wismarer "Kogge", um dieses Ereignis zünftig auszuwerten.

Der Schaden war immens. Die nagelneue, sehr teure Verstellpropelleranlage musste total demontiert, gewartet und wieder montiert werden. Was die Werftzeit deutlich verlängerte. Ursache des Wassereinbruchs waren zwei nicht abgedichtete Stutzen unterhalb der Wasserlinie. Warum das vergessen wurde, ob es aus Versehen oder Absicht war und was aus den Verantwortlichen für die Abnahme wurde, blieb uns unbekannt.

Ich als junger Matrose war der einzige, der während der ganzen Rettungsaktion Bilder machte. War wohl auch der einzige, der eine Kamera dabei hatte. Ich verhielt mich ungeniert und habe fotografiert was ich wollte. Bin ohne Sicherung auf den A-Mast geklettert, um von oben alles aufs Bild zu bekommen. Leider hatte ich nur einen angebrochenen Film in der Kamera.
Es war schon seltsam, dass niemand etwas sagte. Denn die Vermutung, dass bei dieser Sache Sabotage im Spiel sein könnte, lag auf der Hand. Seltsam auch, dass wir als Besatzung später nie dazu befragt wurden. Warum die beginnende Schlagseite nicht schon viel früher bemerkt wurde? Vielleicht war es doch dem Kasten Bier "geschuldet"...

Die Werftzeit habe ich bis zu Ende mitgemacht und bin danach noch zwei Fangreisen nach Labrador an Bord geblieben...
Was mich sehr verwundert, ist, dass ich nirgendwo Hinweise auf diese Havarie finde. Wo doch angeblich alles im Internet steht. Meine Aufnahmen sind offensichtlich die einzigen Bild-Dokumente dieser Havarie. 

BB_Warnowwerft
BB_Warnowwerft
BB_Feuerloeschboot
BB_Feuerloeschboot
BB_halber Schornstein
BB_halber Schornstein
BB_Blick vom A-Mast auf die Heck-Slip
BB_Blick vom A-Mast auf die Heck-Slip
BB_Blick vom A-Mast nach vorn
BB_Blick vom A-Mast nach vorn
BB_Blick zum A-Mast
BB_Blick zum A-Mast
BB_Maschinenraum mit Pumpe
BB_Maschinenraum mit Pumpe
BB_Schlaeuche zum FLB
BB_Schlaeuche zum FLB
BB_Schlaeuche zum FLB2
BB_Schlaeuche zum FLB2
BB_Schlaeuche zum FLB1
BB_Schlaeuche zum FLB1
BB_Schlagseite2
BB_Schlagseite2
BB_Schlagseite1
BB_Schlagseite1
BB_Schlagseite
BB_Schlagseite
BB_Schlepper, Polizei, Zoll
BB_Schlepper, Polizei, Zoll
BB_Polizei, Zoll, Schlepper
BB_Polizei, Zoll, Schlepper